Sonntag, 28. April 2013

Tag 28: St. Jeures – Le Puy-en-Velay

Von St. Jeures nach Le Puy-en-Velay
Distanz: 37,2 KM
Unterkunft Le Puy-en-Velay: Gîte Le Relais du pèlerin St-Jacques

Auch drei Tage nach dem neuerlichen
Wintereinbruch war die Landschaft weiß
Ich hatte sehr gut geschlafen heute Nacht. Erst um 07:45 verlasse ich die Herberge in St-Jeures. Es war klar: heute würde ich vielleicht mein nächstes wichtiges Etappenziel auf meinem langen Camino erreichen können: Le Puy-en-Velay. Gut 37 Kilometer wären dafür erforderlich. Es war sehr kalt und die Landschaft um mich herum war vom vielen Schnee völlig in weiß gekleidet. Ich hatte zum Teil große Probleme, alle Markierungen zu finden. Rund 1 Stunde lief ich dadurch auch einmal in die falsche Richtung. Die Landschaft - viele erloschene Vulkane säumen den Weg - ist wunderschön anzuschauen. Ich erreiche den Ort Araules. Da ich gestern Abend nur einen Müsliriegel zum Abendessen hatte und auch heute zu keinem Frühstück kam, deckte ich mich in einer Bäckerei und einem kleinen Lebensmittelgeschäft (mit komplett überzogenen Preisen) mit dem Notwendigsten ein. Die Kirche in Araules ist zunächst geschlossen. Als mich eine ältere Frau beim Versuch beobachtet, die Türe des Gotteshauses zu betreten, ruft sie mir etwas zu. 

Die Kirche Notre Dame d´Araules
Sie verschwindet vom Fenster ihres Hause und erscheint sogleich, mit einen großen Schlüssel in der Hand schwingend, vor der Kirche. Sie erklärt mir, dass aufgrund der vielen Diebstähle in der Vergangenheit die Kirche auch untertags zugesperrt werden müsse. Es sei ein Drama für die Pilger, aber so sei es eben. Sie habe zudem gehört, dass 2 Herbergen in Le Puy-en-Velay bereits voll belegt seien. Ich hatte sie gar nicht danach gefragt - mir gefällt diese Nachricht aber naturgemäß nicht. Andererseits ist Le Puy sehr groß und es wird dort ganz bestimmt eine Vielzahl an Schlafplätzen geben. so laufe ich nicht ganz so besorgt weiter. Auf Schneepfaden und Asphaltstraßen wandere ich voran, bin dabei aber nicht sonderlich schnell. Eine große Pilgergruppe überholt mich, als ich einen Rast mache. Sie sind sehr nett und bieten mir heißen Tee an. Ein Pilger der Gruppe will mich mit einer jüngeren Mitpilgerin bekannt machen - ich flüchte. Nach nicht allzu langer Zeit erreiche ich den Weiler Raffy. Mit 1276 Metern befindet sich dort auch der höchste Punkt der Via Gebennensis. Nach weiteren gut 2 Stunden erreiche ich den Ort St-Julien-Chapteuil. Das schlechte Wetter lässt mich dort aber nicht lange verweilen - der Schneefall ist sehr stark. Und so muss ich auch die von der Weite beeindruckend auf einem Hügel thronende Kirche St. Julien ohne Besuch stehen lassen.

Bei Schneefall passiere ich St-Julien-Chapteuil
Ein besonders erhebendes Gefühl war es, als ich den "Montjoie" (deutsch Berg der Freude) erreiche. Die 722 Meter hohe Erhebung ist eine Art Monte de Gozo von Le Puy-en-Verlay. Denn von diesem Punkt aus bekommt man erstmals einen tollen Blick auf die prachtvolle Pilgerstadt. Ich habe des Öfteren gelesen, dass es auf dem Camino zu Situationen kommen kann, in denen man nicht mehr ganz Herr seiner Emotionen ist. Ich hatte in diesem Augenblick eine solche Situation. Ich war müde und mir war kalt, ich war dennoch auch froh und zuversichtlich - eine wilde Mixtur unterschiedlichster, um nicht zu sagen auch sich scheinbar ausschließender Emotionen. Seit einem knappen Monat folge ich nun bereits meinem Camino. Er soll mich an ein großes Ziel bringen. Dieses Ziel ist jedoch noch gute 1600 Kilometer weit entfernt. Andererseits hatte ich mit der Ankunft in Le-Puy nun aber auch schon rund 800 Kilometer hinter mich gebracht. Also ziemlich genau jene Länge, die man von den Pyrenäen aus bis nach Santiago de Compostela brauchen würde. Müdigkeit, Dankbarkeit, Freude und viele andere Emotionen flossen in diesem Moment durch meinen Körper. Es ist schwer zu beschreiben was mit mir in diesem Moment passierte. Ich blieb einige Minuten im strömenden Regen stehen und starrte ungläubig auf Le Puy hinüber. 

Ein erloschener Vulkan kurz nach St-Julien-Chapteuil
Nachdem ich mich gefasst hatte wollte ich möglichst schnell das Stadtzentrum erreichen und eine Herberge suchen. Rund 8 Kilometer sollten es bis dahin noch sein. Und der Weg sollte sich dann tatsächlich noch sehr ziehen. Als ich spät Abends (es war wohl bereits nach 18:00) vor der Kathedrale Notre Dame im Zentrum Le Puys stehe, regnet es nach wie vor in Strömen. Ich suche die Jugendherberge auf. Sie ist wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Da ich sehr erschöpft war und großen Hunger hatte, setzte ich mich in eine Kebab-Bude und esse etwas. Es sollte mir jedoch nicht sonderlich gut schmecken, was weniger am Essen, denn am noch nicht vorhandenen Schlafplatzes für heute Nacht lag.  

Ich verlasse die Kebabbude und laufe orientierungslos durch die verregnete Altstadt Le Puys. Ich weiß heute nicht mehr, was ich in diesem Moment gehofft hatte, zu finden. Mir war wieder einmal schmerzlich bewusst, dass ich auf mich allein gestellt war. Niemand würde mir eine einfache Lösung präsentieren. Ich musste es wie immer selbst in die Hand nehmen. In meiner größten Verzweiflung rufe ich in einer Telefonzelle die erste Telefonnummer in meinem nun zum Zug kommenden Rother-Führer an (den ich ja nun ab Le Puy auch verwenden kann). Eine freundliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung mein sofort, dass natürlich noch ein Platz für mich vorhanden sei. Die Herberge sei in unmittelbarer Nähe zur Kathedrale, sie würden mich dort erwarten. Ich war überglücklich! So einfach kann die Welt sein! Als ich die Herberge finde, werde ich überaus freundlich empfangen. Mir wird sogleich eine Tasse Tee angeboten. Ich werde gefragt, ob ich noch was essen möge. Hier fühl ich mich wohl! Ich bin nicht der einzige, der so spät Abends noch in der Herberge eintrifft. 2 junge Franzosen (im Anzug!) kommen auch noch hinzu. Die freundliche Dame schaut etwas verwirrt, als sie den letzten Stempel von Saint-Jeures begutachtet. Ich hatte dort den Stempel erst heute Morgen kurz vor meinem Aufbruch eintragen lassen und so musste sie dasselbe Datum noch einmal eintragen. Ich weiß nicht, ob sie einen düsteren Verdacht hegte, ich könnte kein "seriöser" Pilger sein. Ich kann mir das aber eigentlich nicht wirklich vorstellen - hatte ich doch schon so viele Pilgerstempel gesammelt und meine bisher geleisteten Kilometer müssten eigentlich unumstritten gewesen sein. Zudem hätte sie es in meinen Augen sehen müssen. 28 Tage Pilgerschaft machen müde - auch oder vor allem im Kopf. Ich erhalte meinen Stempel und Madame erzählt mir noch irgendetwas von einem "Créanciale", einer Art Credencial für besonders fromme Pilger, die - wie im übrigen auch die "normalen" Credencials - in der Sakristei der Kathedrale nach der Messe zu erhalten sind. Mein Französisch war leider nicht gut genug, um alle Dinge wortwörtlich zu verstehen. Ich würde es morgen einfach auf mich zukommen lassen und sehen, was sie wohl gemeint haben könnte. 

Auf einer Vulkannadel thront die Kirche
Saint-Michel-d´Aiguilhe
Ich wollte vor lauter Müdigkeit nur noch zu meinem Schlafplatz. Dies war aber gar nicht so einfach. Ich musste meinen Rucksack, Schuhe und Jacke in einer Zwischentreppe deponieren und durfte nur das Notwendigste in einer vorbereiteten Tragetasche mit nach oben zu meinem Schlafplatz nehmen. Vermutlich soll dies den hygienischen Zuständen der Herberge zugute kommen. Totale Sicherheit vor Läusen, Wanzen und Co. Mir gefiel der Gedanke nicht, meine Dinge unbeaufsichtigt zurücklassen zu müssen. Ich hatte während des Camino gelernt, gut auf meine Ausrüstungsgegenstände aufzupassen. Ohne sie würde ich nie in Santiago und Fisterra ankommen können. Etwas widerwillig akzeptiere ich natürlich und folge Madame in die Schlafräume. Ich bekomme eine Koje zugewiesen. So hatte ich also eigentlich überraschend viel Privatsphäre, wenngleich natürlich die "Türen" der Kojen nur lose Vorhänge waren. Zudem waren die Trennwände nach oben hin offen. Die Geräuschkulisse ringsum war also sehr wohl zu vernehmen. Nach dem Körperpflege und dem Schreiben im Tagebuch fiel ich dennoch sehr schnell in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Was morgen passieren würde, wusste ich noch nicht. Madame machte mich bereits zu Beginn unseres Gesprächs darauf aufmerksam, dass um 07:00 in der Kathedrale eine Pilgermesse stattfinden würde. Ich hatte gar nicht groß die Möglichkeit danach zu fragen, ob ich noch eine weitere Nacht in der Herberge verbringen dürfte. Irgendwie war mir klar, dass dies hier nicht so sehr gewünscht war. Ich wusste, dass man auf dem Camino - außer bei Krankheit und höheren natürliche Gewalten, wie Sturm und Hagel - nur eine Nacht in einer Herberge verbringen darf: Zumindest in den kommunalen und kirchlichen Herbergen. Ich verstand das auch irgendwie. Ich wollte auch keinem anderen Pilger einen Schlafplatz wegnehmen. Aber ich war müde und hätte gerne einen Tag Pause gemacht. 

War ich in der Schweiz völlig alleine unterwegs, traf ich auf der Via Gebennensis maximal 20 andere Pilger, so war klar, dass Le Puy-en-Velay Startpunkt einer ungleich größeren Anzahl von Pilgern sein würde. Bei der Pilgermesse am folgenden Tag, solltes sich dies dann auch bestätigen....

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